„Mouches volantes“
Zurück in meiner gewohnten Umgebung aber, wo alles seine rationale Erklärung hatte und haben musste, verflüchtigten sich meine Vorsätze und Einsichten schnell einmal. Ich musste wissen, was es wirklich war, das sich da vor meinen Augen hin- und herbewegte und das ich anstarren sollte – um eventuelle Risiken auszuschliessen.
Ich liess daher meine Augen von einem Augenarzt untersuchen. Der beruhigte mich und teilte mir mit, dass es sich bei diesen Trübungen um abgesonderte Teilchen im Glaskörper handle. Er nannte sie mouches volantes, ein lästiges und weit verbreitetes, aber harmloses Phänomen. Behandelbar sei es nicht, ich müsse lernen, damit zu leben. Er riet mir, am besten gar nicht darauf zu achten.
Ich musste es aber genauer wissen und begann mich über die Trübungen zu informieren. ›Mouches volantes‹, fand ich heraus, ist sowohl in der französischen als auch in der deutschsprachigen Augenheilkunde die allgemeine Bezeichnung für dieses Phänomen. Der geläufige deutsche Ausdruck lautet ›Glaskörpertrübungen‹ oder auch ›fliegende Mücken‹ und ›Mückensehen‹. Im angelsächsischen Raum sind die Punkte und Fäden als floaters bekannt. Weiter gibt es eine Vielzahl von umschreibenden Bezeichnungen: dunkle Flecken, Schlieren, dünne Haare, kleine schwarze Fuseln, Flusen, Staubfussel, Würmchen, Ringlein, Flitterchen, Spinnennetze, Fasern, Kreise und längliche Ketten – nebst Punkten und Fäden samt ihrer verniedlichten Form.
Mouches volantes werden als ›entoptische Erscheinung‹ klassifiziert. Dies sind Wahrnehmungen von Objekten, die der Betrachter zwar ausserhalb von sich zu sehen glaubt, die aber in Wirklichkeit innerhalb seines Auges liegen.
Mouches volantes werden gegen andere solche Erscheinungen abgegrenzt, beispielsweise gegen Purkinjes Gefässschattenfigur, also die Wahrnehmung von Äderchen der Augenwand bei seitlicher Lichteinstrahlung in die Augen; oder gegen die ›Sternchen‹, blitzartig aufleuchtende, sich in gewundenen Bahnen bewegende Kügelchen, die auf niedrigen Blutdruck zurückzuführen sind. Hinter dem Begriff der Mouches volantes verbirgt sich jedoch eine Vielzahl von unterschiedlichen Auffassungen und Erklärungen, sowohl was die Natur der flottierenden Partikel betrifft als auch deren Ursachen und genaue Lokalität im Auge.
„Mouches volantes“
Tatsächlich funktionieren diese medizinischen Verfahren sehr schlecht: Die Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung der Mouches volantes sind so streng, dass dafür praktisch nur solche Patienten in Betracht kommen, die an irgendwelchen gravierenden Schäden im Auge leiden. Patienten jedoch, die lediglich harmlose Glaskörpertrübungen aufweisen, werden von seriösen Ärzten meist abgewiesen. Das gilt insbesondere für die Laserbehandlung: Denn oft kann das, was üblicherweise mit dem Namen ›Mouches volantes‹ in Verbindung gebracht wird, von den Augenärzten objektiv gar nicht festgestellt, also nicht gesehen und nicht fotografiert werden. Mit dem Laser lassen sich aber nur solche Partikel im Auge verdampfen, die von den Spezialisten auch festgestellt und lokalisiert werden können. Im Falle der Vitrektomie liegen die Dinge anders: Hier spielt das Feststellen der Mouches volantes keine Rolle, da ohnehin der ganze Glaskörper oder ein Teil in der Sehachse entfernt wird.
Ich sagte zu Nestor, unsere Medizintechnik sei einfach noch zu wenig ausgereift, um alle Arten von Mouches volantes festzustellen und effektiv und risikolos zu behandeln; aber dies sei trotzdem kein Beleg dafür, dass es sich bei den fliegenden Mücken um etwas anderes handle als um Partikel im Auge.
Dann machte ich ihn auf ein zweites Problem aufmerksam, das mit dem der Feststellung und Behandlung eng verknüpft war: die inhaltliche Bedeutung des Begriffs ›Mouches volantes‹. Nicht nur in den Köpfen der Betroffenen, sondern auch in der Fachliteratur schien mir dieser Begriff zu wenig gegen solche Erscheinungen abgegrenzt zu sein, die auf ernst zu nehmende Netzhautschäden verwiesen.
Wenn von ›Mouches volantes‹, oder mehr noch im angelsächsischen Raum von floaters gesprochen wird, dann schwingen gleichzeitig all die Erkrankungen und Verletzungen der Netzhaut mit – obwohl diese in ihrer Erscheinung ganz anders beschrieben werden, als die einzelnen Pünktchen und Fädchen: nämlich als unbewegliche flächendeckende Verdunklungen des Blickfeldes, ›Skotome‹ genannt, die bisweilen als Russ oder Russregen charakterisiert werden; dazu tritt die Wahrnehmung von hellen Lichtblitzen, bekannt als ›Photome‹; schliesslich gehören auch die Wahrnehmungen von gelblichen oder rötlichen Flecken dazu – durch Augenkrankheiten verursachte Einlagerungen im Glaskörper.
Dies wird wohl der Grund sein, warum diese in der Mehrzahl harmlosen und transparenten Punkte und Fäden, wenn sie als ›Mouches volantes‹ oder floaters betitelt werden, manchen Menschen als beunruhigend oder sogar gefährlich erscheinen, so dass sie sie um jeden Preis weghaben wollen. Hier hätte man argumentieren können, dass ein Mensch, der durch eine erfolgreiche Laserbehandlung oder Vitrektomie von seinen Mouches volantes oder floaters befreit wurde, tatsächlich irgendwelche Teilchen im Auge hatte – aber nicht jene Punkte und Fäden, die Nestor als ›Grundstruktur des Bildes‹ beschrieb.