Mouches Volantes
Die Leuchtstruktur des Bewusstseins
von
Floco Tausin
- „Kreisfiguren mit Doppelmembran“
- „Das verrückte Tanzen“
- „Mouches volantes“
- „Die Schichten des Bewusstseins“
Mouches Volantes
Die Leuchtstruktur des Bewusstseins
von
Floco Tausin
„Kreisfiguren mit Doppelmembran“
Im folgenden Spätsommer kam der Tag, an dem ich mich mit meinen Unterlagen auf den Weg ins Emmental machte. Bei Nestor angekommen, dauerte es nicht lange, bis wir auf die Nachbilder zu sprechen kamen. Er verkündete nämlich, dass er ein stabileres Hüenerstängeli gezimmert habe, das ich für das Sehen der Nachbilder im Hühnerstall verwenden könne.
Die Chance packend, konterte ich sogleich, zog die Wirksamkeit des Nachbildsehens in Zweifel und begründete dies mit den Resultaten meiner Nachforschungen.
»Im menschlichen Auge gibt es zwei Arten von Sehzellen: die längeren Stäbchen und die kürzeren Zäpfchen«, las ich ihm aus meinen Notizen vor. »Bei den Zäpfchen werden wiederum drei Typen unterschieden, nämlich solche, die auf rote, auf blaue und auf grüne Farbwahrnehmungen ansprechen. Unser physiologisches Sehsystem beruht auf der additiven Farbmischung, das heisst, dass die verschiedenen Farben durch die unterschiedliche Anregung dieser drei Zäpfchenzellen zusammengesetzt werden: Blau sehen wir dann, wenn nur die blauen Zapfen angeregt werden; gelb sehen wir, wenn die roten und die grünen Zäpfchen zu gleichen Teilen angeregt werden. Wenn wir weiss sehen, werden alle Zäpfchen gleichermassen beansprucht. Aus rot, grün und blau werden alle Farben gemischt, die wir wahrnehmen können.
Wenn wir nun längere Zeit einen roten Gegenstand betrachten, zum Beispiel eine rote Tasse, so werden die roten Zäpfchen beansprucht. Mit der Zeit erschöpft sich aber deren Farbstoff, das heisst ihre Leistung verringert sich. Wenn wir daher nun auf eine weisse Fläche blicken, so fehlt die Leistung derjenigen Rotzäpfchen, welche wir vorher beansprucht haben, während die Zäpfchen Blau und Grün noch zu gleichen Teilen leistungsfähig sind. Daher sehen wir die Form der Tasse in der Farbmischung Blau und Grün, also in Türkis, welches somit die Komplementärfarbe zu Rot ist. Diese türkisfarbene Tasse wird als ›negatives Nachbild‹ bezeichnet.«
Ich blickte zu Nestor. Er zuckte defensiv mit der Achsel.
»Das ist Wissen, Nestor«, bekräftigte ich meine Ausführungen. »Das ist wissenschaftlich erhärtetes Wissen.«
»Es ist kein direktes Wissen«, erwiderte er. »Deshalb wird dich dieses Wissen bei der vollkommenen Restauration nicht weiterbringen. Wen interessiert schon, wie die Nachbilder zustande kommen? Um zu wissen, was sie wirklich sind, musst du sie sehen, nicht darüber lesen und nachdenken.«
»Nachbilder sind eine Leistungseinbusse der Augenrezeptoren. Das wurde nachgewiesen.«
Ich hielt ihm meine Unterlagen hin. Er nahm die Blätter und schaute sie an. Aber er las sie nicht, er überflog sie nur, und das verärgerte mich.
Nestor schüttelte den Kopf. »Und jetzt?« fragte er mich. Seine Stimme klang ernst, und sein Blick war streng.
»Du hast es gar nicht gelesen«, warf ich ihm vor.
»Ich brauche das nicht zu lesen. Ich weiss, was die Nachbilder sind«, behauptete er.
»Aber du verfälschst sie«, rief ich wütend. In diesem Moment fühlte ich einen stechenden Schmerz unterhalb des Nabels, worauf mein Herz zu pochen begann, so als wäre ich kilometerweit gerannt.
Mit zitternder Stimme versuchte ich, meinen Standpunkt zu verteidigen. »Du sprichst von den Nachbildern, als würde es sich dabei um eine reale Welt handeln, analog zu unserer Welt. Dabei geht es doch nur um physikalische Reize und biochemische Prozesse im Auge selbst.«
»Richtig«, bestätigte er ironisch. »So wie auch dein ganzes Leben aus physikalischen Reizen und biochemischen Prozessen besteht – da ist nichts weiter.« Nestor gab mir meine Unterlagen zurück.
»Sei nicht naiv«, sagte er sanft. »Such deinen Halt nicht in dem Gekritzel da. Die Nachbilder sind tatsächlich eine reale innere Welt. Eine Welt, die du erst mal richtig sehen lernen musst. Es geht hier nicht um das Wissen der physiologischen Vorgänge im Auge. Was auf deinen Zetteln steht, mag für die wissenschaftliche Welt zutreffen – aber es hat keinen Wert für uns. Für uns geht es darum, die Nachbilder wahrzunehmen und die innere Leinwand kennen zu lernen. Dazu musst du aber aufhören, deine Erlebnisse auf materielle Vorgänge zurückzuführen. Damit gibst du nur dauernd deine kleine Welt in das Bild, und das lenkt dich vom Wahrnehmen der inneren Leinwand ab.«
„Das verrückte Tanzen“
Ich erzählte Nestor von dieser Trübung. Er gab sich ungewöhnlich interessiert und stellte mir allerlei Fragen, etwa, ob das Ding eher hell oder eher dunkel sei; welche Form es habe; ob ich nur einen einzigen, oder ob ich mehrere solcher Flecken sehen würde. Ich beschrieb ihm so gut als möglich, was ich wahrgenommen hatte.
»Ist dieser Fleck ständig im Fluss?« fragte er weiter.
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube schon.«
»Glauben bringt uns hier nicht weiter«, sagte er scharf. »Wenn du es nicht weisst, dann schau den Fleck eben an.«
»Warum? Ist das irgendwie wichtig?« fragte ich, gereizt wegen seiner Zurechtweisung.
»Es könnte dein Leben verändern«, gab er zur Antwort.
Seine Worte hatten etwas Bedrohliches an sich. Nichts hätte ich in diesem Moment lieber getan, als die Situation zu klären, ihn zu fragen, wie er das genau gemeint habe. Nestor aber drängte mich, die Trübung weiterhin anzuschauen.
Ich schaute erneut in die aufgehende Sonne und versuchte mich anschliessend ganz auf das Nachbild zu konzentrieren. Als ich es über den Himmel schob, schwang bald darauf auch jener Fleck wieder mit. Sofort versuchte ich diesen anzuschauen, doch das funktionierte nicht, denn gerade in dem Moment floss er aus meinem Blickfeld. Ich versuchte es noch einige Male, aber ich verzweifelte beinahe bei diesen Versuchen. Es hatte den Anschein, als ob ich selbst jene Trübung mit meinen Augen wegwischen würde, sobald ich sie anschauen wollte.
»Ich kann die Trübung nicht richtig sehen, Nestor. Sie geht dauernd weg.«
»Versuche sie wie die Nachbilder festzuhalten«, riet er. »Schiebe sie kraftvoll nach oben. Wenn du sie siehst, dann schiebe sie hin und her, so dass sie möglichst lange in deinem Blickfeld bleibt. Beobachte, wie sie fliesst.«
Allmählich konnte ich die Trübung länger in meinem Blickfeld sehen. Dabei stellte ich fest, dass es sich um eine Überlagerung von Ringen und Punkten verschiedener Grössen handelte, teils verschwommen, teils etwas schärfer. Erkennen konnte ich diese nur dank ihren mehr oder weniger deutlichen Konturen, denn sie waren farblos und völlig durchsichtig.
Ich teilte Nestor meine Erkenntnis mit. Er schien zufrieden und lächelte. Er fand, dies sei wirklich eine kleine Bewusstwerdung und forderte mich auf, meine Konzentration ab jetzt auf jene Punkte zu richten.
»Aber was ist es?« fragte ich ihn.
Er schwieg sich genüsslich aus, bevor er antwortete.
»Was du gesehen hast«, erklärte er geheimnisvoll, »ist ein kleiner Ausschnitt aus der Grundstruktur des Bildes.«
»Grundstruktur?«
»Grundstruktur«, rief er lachend und imitierte mein verblüfftes Gesicht. »Das Gerüst eben, auf welchem die ganze Kulisse hier aufgezogen ist.«
„Mouches volantes“
Zurück in meiner gewohnten Umgebung aber, wo alles seine rationale Erklärung hatte und haben musste, verflüchtigten sich meine Vorsätze und Einsichten schnell einmal. Ich musste wissen, was es wirklich war, das sich da vor meinen Augen hin- und herbewegte und das ich anstarren sollte – um eventuelle Risiken auszuschliessen.
Ich liess daher meine Augen von einem Augenarzt untersuchen. Der beruhigte mich und teilte mir mit, dass es sich bei diesen Trübungen um abgesonderte Teilchen im Glaskörper handle. Er nannte sie mouches volantes, ein lästiges und weit verbreitetes, aber harmloses Phänomen. Behandelbar sei es nicht, ich müsse lernen, damit zu leben. Er riet mir, am besten gar nicht darauf zu achten.
Ich musste es aber genauer wissen und begann mich über die Trübungen zu informieren. ›Mouches volantes‹, fand ich heraus, ist sowohl in der französischen als auch in der deutschsprachigen Augenheilkunde die allgemeine Bezeichnung für dieses Phänomen. Der geläufige deutsche Ausdruck lautet ›Glaskörpertrübungen‹ oder auch ›fliegende Mücken‹ und ›Mückensehen‹. Im angelsächsischen Raum sind die Punkte und Fäden als floaters bekannt. Weiter gibt es eine Vielzahl von umschreibenden Bezeichnungen: dunkle Flecken, Schlieren, dünne Haare, kleine schwarze Fuseln, Flusen, Staubfussel, Würmchen, Ringlein, Flitterchen, Spinnennetze, Fasern, Kreise und längliche Ketten – nebst Punkten und Fäden samt ihrer verniedlichten Form.
Mouches volantes werden als ›entoptische Erscheinung‹ klassifiziert. Dies sind Wahrnehmungen von Objekten, die der Betrachter zwar ausserhalb von sich zu sehen glaubt, die aber in Wirklichkeit innerhalb seines Auges liegen.
Mouches volantes werden gegen andere solche Erscheinungen abgegrenzt, beispielsweise gegen Purkinjes Gefässschattenfigur, also die Wahrnehmung von Äderchen der Augenwand bei seitlicher Lichteinstrahlung in die Augen; oder gegen die ›Sternchen‹, blitzartig aufleuchtende, sich in gewundenen Bahnen bewegende Kügelchen, die auf niedrigen Blutdruck zurückzuführen sind. Hinter dem Begriff der Mouches volantes verbirgt sich jedoch eine Vielzahl von unterschiedlichen Auffassungen und Erklärungen, sowohl was die Natur der flottierenden Partikel betrifft als auch deren Ursachen und genaue Lokalität im Auge.
„Mouches volantes“
Tatsächlich funktionieren diese medizinischen Verfahren sehr schlecht: Die Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung der Mouches volantes sind so streng, dass dafür praktisch nur solche Patienten in Betracht kommen, die an irgendwelchen gravierenden Schäden im Auge leiden. Patienten jedoch, die lediglich harmlose Glaskörpertrübungen aufweisen, werden von seriösen Ärzten meist abgewiesen. Das gilt insbesondere für die Laserbehandlung: Denn oft kann das, was üblicherweise mit dem Namen ›Mouches volantes‹ in Verbindung gebracht wird, von den Augenärzten objektiv gar nicht festgestellt, also nicht gesehen und nicht fotografiert werden. Mit dem Laser lassen sich aber nur solche Partikel im Auge verdampfen, die von den Spezialisten auch festgestellt und lokalisiert werden können. Im Falle der Vitrektomie liegen die Dinge anders: Hier spielt das Feststellen der Mouches volantes keine Rolle, da ohnehin der ganze Glaskörper oder ein Teil in der Sehachse entfernt wird.
Ich sagte zu Nestor, unsere Medizintechnik sei einfach noch zu wenig ausgereift, um alle Arten von Mouches volantes festzustellen und effektiv und risikolos zu behandeln; aber dies sei trotzdem kein Beleg dafür, dass es sich bei den fliegenden Mücken um etwas anderes handle als um Partikel im Auge.
Dann machte ich ihn auf ein zweites Problem aufmerksam, das mit dem der Feststellung und Behandlung eng verknüpft war: die inhaltliche Bedeutung des Begriffs ›Mouches volantes‹. Nicht nur in den Köpfen der Betroffenen, sondern auch in der Fachliteratur schien mir dieser Begriff zu wenig gegen solche Erscheinungen abgegrenzt zu sein, die auf ernst zu nehmende Netzhautschäden verwiesen.
Wenn von ›Mouches volantes‹, oder mehr noch im angelsächsischen Raum von floaters gesprochen wird, dann schwingen gleichzeitig all die Erkrankungen und Verletzungen der Netzhaut mit – obwohl diese in ihrer Erscheinung ganz anders beschrieben werden, als die einzelnen Pünktchen und Fädchen: nämlich als unbewegliche flächendeckende Verdunklungen des Blickfeldes, ›Skotome‹ genannt, die bisweilen als Russ oder Russregen charakterisiert werden; dazu tritt die Wahrnehmung von hellen Lichtblitzen, bekannt als ›Photome‹; schliesslich gehören auch die Wahrnehmungen von gelblichen oder rötlichen Flecken dazu – durch Augenkrankheiten verursachte Einlagerungen im Glaskörper.
Dies wird wohl der Grund sein, warum diese in der Mehrzahl harmlosen und transparenten Punkte und Fäden, wenn sie als ›Mouches volantes‹ oder floaters betitelt werden, manchen Menschen als beunruhigend oder sogar gefährlich erscheinen, so dass sie sie um jeden Preis weghaben wollen. Hier hätte man argumentieren können, dass ein Mensch, der durch eine erfolgreiche Laserbehandlung oder Vitrektomie von seinen Mouches volantes oder floaters befreit wurde, tatsächlich irgendwelche Teilchen im Auge hatte – aber nicht jene Punkte und Fäden, die Nestor als ›Grundstruktur des Bildes‹ beschrieb.
„Die Schichten des Bewusstseins“
»Nestor hat von dir erzählt«, fuhr sie fort. »Du besuchst ihn regelmässig um dieses Möbel zu restaurieren.«
»Ich weiss nicht, ob ich mit der Restauration noch in diesem Leben fertig werde«, witzelte ich. Anstatt zu lachen pflichtete sie mir bei, dass dies gewiss eine schwierige Aufgabe sei.
»Du ahnst gar nicht, wie Recht du hast«, prahlte ich. »Dieses Möbel ist von einem besonderen Menschen erbaut worden, von dem ich nur allzu gern wüsste, wer er war und was er in seinem Leben getan hat.«
Sie war der Ansicht, dass bereits das aufmerksame Betrachten eines Gegenstandes Aufschluss über den Erbauer und über das geben könne, was ihm in seinem Leben wichtig gewesen sei. Ich widersprach, dass es sich bei dieser Art ›Aufschluss‹ nur um Interpretationen handle. Um wirklich etwas über den Erbauer zu erfahren, müsse man methodisch vorgehen. Ich schilderte ihr, wie ich dem Namen auf dem Möbel nachgegangen war und die Emmentaler Geschichte des 19. Jahrhunderts aufgearbeitet hatte um die gewünschten Antworten zu erhalten.
Dann kam ich schnell auf Nestor und die vollkommene Restauration zu sprechen. Ich wurde richtig gesprächig und begann von den schwierigen Übungen zu schwärmen, die Nestor und ich zum Zwecke der vollkommenen Restauration ausführen würden. Ich erzählte ihr auch von den Mouches volantes, die Partikel des Grundgerüstes unserer materiellen Welt seien. Durch eine strenge, disziplinierte Lebensweise könnten wir sie in uns entwickeln, vergrössern und damit – unglaublich, aber wahr – als erste Wirkung unseres Bewusstseins erkennen. Abenteuerlich deutete ich an, dass es sich bei Nestor, mir und unseren Nachbarn auf der linken Seite der Emme um eine Art Geheimbund handle, eine uralte mystische Gemeinschaft, die nach der Überwindung der Dualität und nach Vollkommenheit strebte.
»Die Restauration dieses Möbels«, sagte ich schliesslich überspitzt, »ist für Nestor und mich der Schlüssel zum Verständnis dessen, wer der Erbauer oder die Erbauerin war und wie diese Person nach Vollkommenheit gestrebt hat.«
Ich fühlte mich erschöpft. Eigenartigerweise hatte mir das Sprechen eine ungewohnt hohe Konzentration abgefordert. Es war, als hätte ich gegen eine erdrückende Kraft ansprechen müssen, um die junge Frau überhaupt erreichen und überzeugen zu können. Jene stand noch immer an die Wand gelehnt. Die ganze Zeit hatte sie geschwiegen und mir zugehört.
»Ja, die Restauration von Mari Eglis Möbel wird dir sicher weiterhin eine erlebnisreiche Zeit bescheren«, meinte sie lapidar.
Beim Namen ›Mari Egli‹ horchte ich auf: Woher wusste die Rothaarige, dass dieser Name auf dem Möbel stand? Ich hatte ihn vorhin nämlich nicht erwähnt.
»Weisst du von Nestor, dass dieses Möbel einer Mari Egli gehörte?«
»Nein«, erwiderte sie kindlich. »Ich habe das Möbel selbst gesehen. Viele Male. Ich bin ja hin und wieder bei Nestor.«
»Du bist hin und wieder bei Nestor?« fragte ich verwirrt.
»Klar. Wir sind Nachbarn. Mein Haus steht oberhalb von seinem.« Sie schmunzelte.
Mir schoss das Blut in den Kopf und mein Puls erhöhte sich. Die ganze Zeit war ich davon ausgegangen, dass sie und Nestor sich per Zufall auf der Party kennen gelernt hatten und ihre Bekanntschaft nur flüchtig war, dass die junge Frau also nichts von Mouches volantes, Sehern und vollkommener Restauration wusste. Nestor hatte aber mehr als einmal erwähnt, dass nur Seher auf der linken Seite der Emme ständig leben könnten. Diese Frau war demnach eine Seherin und wusste über alles genau Bescheid! Ich wagte mich kaum zu erinnern, was ich ihr eben alles vorgeprahlt hatte. Die Rothaarige hatte mich eiskalt in eine Falle tappen lassen.
Ich versuchte ruhig zu bleiben und mit Sprüchen von der peinlichen Situation abzulenken. Der Wille aber unterlag dem Körper: Zu schnell war mein Herzschlag, zu unregelmässig mein Atem und daher zu zittrig meine Stimme. Die Schande liess mich schliesslich in ein blockiertes Schweigen fallen. Ich suchte im Gesicht der jungen Frau nach einem klärenden Ausdruck, mit dem sie sich ihres Triumphes versicherte und mich in die Schranken verwies. Aber ich suchte vergeblich – da war überhaupt kein Ausdruck in ihren Augen und ihrem Gesicht. Das gab mir endgültig die Gewissheit, dass die Rothaarige eine Seherin war, eine Frau, die ihre Energie in das Bild als ein Ganzes geben konnte und daher fähig war, mit ihrer vollen Aufmerksamkeit im Bild präsent zu sein, ohne darüber zu urteilen oder etwas daran verändern zu wollen.
„Das Leuchten der Grundstruktur“
Ich fixierte einen vertrauten Faden. Eine längere Zeit spielte ich damit, hielt ihn so gut als möglich in der Mitte des Bildes oder schob ihn horizontal über den leicht dunstigen hellen Himmel. Je länger ich dies aber tat, desto mehr veränderte er sich: Zu meinem Erstaunen wurde der eigentlich transparente Faden nicht nur kleiner und schärfer – er begann auch zu leuchten.
Ich merkte schnell, dass das Sehen des Fadens in diesem leuchtenden Zustand nichts Dauerhaftes war: Eine falsche, zu heftige oder zu lasche Augenbewegung oder ein Blick auf die Umgebung genügte, damit er auf einen Schlag wieder grösser wurde und seine Leuchtkraft verlor. Mehrmals konzentrierte ich mich darauf, und jedes Mal stellte sich das Leuchten nach einiger Zeit erneut ein. Bei längerer Konzentration leuchtete der Faden intensiver, heller als die Umgebung; gleichzeitig erkannte ich dasselbe Leuchten aber auch in den Punkten und Fäden um diesen herum.
Aufgeregt erzählte ich Nestor von meiner Wahrnehmung.
»Was du gesehen hast, ist das Licht des Bewusstseins«, sagte er wie selbstverständlich. »Du kannst es sehen, weil du die Bewusstseinsschichten zusammengedrückt und verdichtet hast, ohne dich aber körperlich zu bewegen.«
Ich fragte ihn, was das bedeute. Anstatt zu antworten zeigte Nestor auf einen hellen grossen Stein zu unserer Rechten und forderte mich auf, meinen Faden über diesem Stein zu sehen. Als ich den Faden einigermassen darüber halten konnte, hiess er mich, auf den Stein zuzugehen, ohne meinen Blick vom Faden abzuwenden. Erst nach etlichen Anläufen gelang es mir, den Faden auf der Höhe zu halten und gleichzeitig so nahe an den Stein zu gelangen, dass ich ihn beinahe mit meiner Nasenspitze berührte. Verwundert stellte ich fest, dass der Faden beim Näherkommen genauso verkleinert und leuchtend wurde, wie ich es vorhin am Himmel beobachtet hatte.
Dann forderte mich Nestor auf, meinen Arm auszustrecken und den Faden auf meiner Handfläche zu sehen. Ich sollte nun die Handfläche dicht vor mein Gesicht halten, meinen Blick noch immer auf den Faden gerichtet. Auch hier passierte wieder dasselbe: je näher ich die Hand vor mein Gesicht hielt, desto kleiner und leuchtender wurde der Faden.
»Das ist Konzentration«, erklärte Nestor schliesslich. »Das Licht des Bewusstseins wird durch deine Konzentration besser sichtbar. Im Sehen kannst du direkt erfahren, was Konzentration eigentlich ist: Es ist ein Kleinermachen des Ausschnitts, den du siehst. Und dabei verteilst du das Licht im Bild auf kleinerem Raum. Oder mit anderen Worten: Du komprimierst deine Bewusstseinsschichten.
Wenn du auf einen Gegenstand zugehst oder ihn an dich heranziehst, so bedeutet das auf der äusseren Leinwand, dass du einen kleineren Ausschnitt des Gegenstandes grösser, detailreicher und schärfer betrachten kannst. Dasselbe hast du gemacht, als wir über die Schichten des Bewusstseins sprachen und du dir deine Tasse an die Stirn gepresst hast – damals konntest du aber nicht sehen, was gleichzeitig auf der inneren Leinwand mit deiner Grundstruktur passiert. Jetzt siehst du direkt, dass die Kugeln und Fäden kleiner, aber konzentrierter, intensiver, leuchtender werden – das ist Konzentration.«
Nestor nannte es einen Fortschritt, dass ich jetzt nicht mehr auf die äussere Leinwand schauen müsse, um mich zu konzentrieren. Konzentration komme unabhängig von der materiellen Welt, durch das Sehen der Grundstruktur zustande. Ich wandte ein, ich könne mich auch auf Dinge konzentrieren, Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen etwa, ebenfalls ohne die materielle Welt direkt wahrnehmen zu müssen.
»Das ist keine echte Konzentration«, sagte Nestor bestimmt. »Die Menschen glauben, es sei Konzentration, wenn sie über etwas nachsinnen. Aber was macht ihre Aufmerksamkeit dabei? Sie richtet sich dauernd neu aus. Denkende Menschen entspannen sich immer wieder neu, wenn sie mit den Augen nichts fixieren und das Bild nicht festhalten. Vollständige Konzentration dagegen ist, wenn du deine Fäden und Kugeln so festhalten und zum Leuchten bringen kannst, dass sie nicht mehr fliessen.
Heute hast du das Leuchten zum ersten Mal gesehen. Und ab heute solltest du dich beim Sehen jedes Mal so weit konzentrieren, dass deine Grundstruktur aufleuchtet. Das Sehen deiner Kugeln und Fäden wird dir also stets von neuem zeigen, wie gross deine Konzentration wirklich ist.«