Beschreibung
Aussergewöhnliche subjektive visuelle Wahrnehmungen sind dazu prädestiniert, auf zwei Arten interpretiert zu werden. Einerseits können sie als Zeichen göttlicher Eingebung, mystischer Erfahrung oder ekstatischer Trancezustände erlebt werden. Andererseits fasst man sie als Ausdrücke normaler physiologischer Vorgänge oder aber als Vorboten oder Symptome von krankhaften mentalen oder physiologischen Zuständen auf. Welche Interpretation dabei den Vorzug erhält, hängt nicht so sehr vom eigentlichen Phänomen ab, sondern von den Umständen, unter welchen es gesehen und interpretiert wird. Ein gutes Beispiel dafür sind die im Blickfeld auftauchenden beweglichen transparenten Punkte und Fäden, die vorzugsweise beim Blick gegen den Himmel oder eine andere helle Fläche erscheinen. Für die westliche biomedizinische Augenheilkunde sind dies idiopathische, d.h. nicht auf eine Krankheit verweisende Glaskörpertrübungen. Für die Seher um den im Schweizer Emmental lebenden Lehrer Nestor, die dieses Phänomen als Meditationsobjekt einsetzen, sind es erste Erscheinungen einer alles ausfüllenden leuchtenden Bewusstseinsstruktur. Ähnlich gegensätzliche Deutungen gibt es für die Nachbilder, die Kreiselwellen (blue field entoptic phenomenon) und die Formkonstanten (form constants).
Ich gehe davon aus, dass diese zwei Arten der Deutung von subjektiven visuellen Phänomenen auch für frühere und aussereuropäische Kulturen zutrifft, in denen sich ein systematisches medizinisches Denken herausgebildet hat. In diesem Artikel frage ich nach der Erklärung der Mouches volantes in solchen Medizinsystemen und wende mich dabei den zwei im Westen bekanntesten zu, dem Ayurveda und der Traditionellen Chinesischen Medizin. Beide haben eine eigene Augenheilkunde entwickelt, und beide haben Phänomene beschrieben, die als Mouches volantes gedeutet werden können. Ayurveda und die Chinesische Medizin sind aus zwei Gründen interessant: Einerseits haben diese Systeme in der modernen westlichen Alternativmedizin einen festen Platz und geniessen unter Anhängern der „sanften Medizin“ einen guten Ruf; von dieser östlichen Medizin erhoffen sich Menschen im Westen auch zunehmend Hilfe im Kampf gegen ihre Glaskörpertrübungen. Andererseits sind diese als holistisch geltenden und auf metaphysischen und spirituellen Grundsätzen basierenden Medizinsysteme auch deshalb interessant, weil sich hier möglicherweise Raum für eine Versöhnung der spirituellen und medizinisch-materialistischen Sichtweise der Mouches volantes eröffnet…